Die Schönheit des Zerbrochenen

Foto by Ismael Sanches through Pexels

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Photo @kyokoohwaki

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Kintsugi

Neulich sah ich auf Facebook ein Video, das mich sehr berührt hat. Es handelte von Kintsugi, einer japanischen Handwerkstradition, die zerbrochene Keramikteile wieder zusammenfügt. Eine zerbrochene Vase, eine kaputte Tasse werden dabei wieder so zusammengefügt, dass die Naht noch sichtbar ist und häufig sogar mit Goldfarbe hervorgehoben wird.

Was mich daran berührt hat?

Bei Kintsugi geht es nicht darum, den Gegenstand möglichst genau wiederherzustellen, wie er vorher war. Der Künstler weiß, dass das gar nicht möglich ist. Wenn etwas einmal zerbrochen ist, kann es nicht rückgängig gemacht werden. Aber aus den zerbrochenen Teilen kann etwas Neues geschaffen werden. Es ähnelt zwar dem Alten, doch es wird etwas Neues daraus. Und die Bruchteile, die werden besonders geehrt.

Bruchstücke des Lebens

Ist das nicht eine wundervolle Allegorie auf unser eigenes Leben? Wie oft zerbrechen wir an Situationen, die wir kaum bewältigen, an einer verlorenen Liebe, dem Tod eines geliebten Menschen, dem Scheitern eines Projektes, an dem unser Herz hing. Unsere Wünsche und Träume sind nicht in Erfüllung gegangen oder wir haben versagt bei etwas, das uns wichtig war. Etwas zerbricht in uns dabei. Eine Hoffnung, die nicht erfüllt wurde, ein inniger Wunsch, der uns versagt blieb. Aber blicken wir mit den Augen von Kintsugi darauf, dann ist es genau diese Bruchstelle, die uns verändert, an der wir wachsen und die uns zu etwas Neuem machen kann, wenn wir den Bruch nicht verstecken, sondern ihn ehren.

Mich hat gerührt, wie liebevoll der Künstler die Bruchstücke einsammelt und wertschätzt in ihrer eigenen Form. Die Scherben werden nicht weggeworfen nach dem Motto: der kaputte Scheiß muss weg – sondern geehrt in dem Wissen, dass daraus etwas Neues entstehen wird.

Photo @kyokoohwaki

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Nichts mehr verstecken

Wir könnten mit unseren eigenen Erfahrungen ebenso verfahren. Wenn der Schmerz, die Wut, die Schuld und Scham, die ja meistens die Folge schmerzhafter Erfahrungen sind, wenn diese Gefühle irgendwann nachgelassen haben, dann könnten wir diese Erfahrungen nehmen wie kleine Schätze, die uns neues Wissen gelehrt haben. Wir könnten sie betrachten von allen Seiten, was wir erlebt und gelernt haben über uns selbst und die Welt. Und dann fügen wir die zerbrochenen Teile mit besonderer Sorgfalt in unser Bild von uns selbst, nehmen die Erfahrungen liebevoll in uns auf und feiern sie für das, was sie uns geschenkt haben und wie sie uns erweitert, verändert und bereichert haben.

Mit goldener Farbe heben wir die Brüche hervor, verstecken sie nicht, sondern zeigen sie her, ehrlich und in dem Wissen, dass sie zu uns gehören, wie jede schöne Erfahrung, jedes Lachen und jede Freude auch. Und dann werden sich die Bruchstücke neu zusammenfügen und ihre Schönheit wird unsere Schönheit sein.

Für weitere Infos über Kintsugi: https://www.japandigest.de/kulturerbe/geschichte/kunsthandwerk/kintsugi/